OVG Sachsen-Anhalt: Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten bei Verstoß gegen Abstandsflächen

Das Oberverwaltungsgericht das Landes Sachsen-Anhalt hat mit Beschluss vom 22.12.2023 – 2 L 53/23.Z zu den Voraussetzungen eines Anspruchs auf bauaufsichtliches Einschreiten bei einem Verstoß gegen die Regelungen zu den Abstandsflächen entschieden.


Der Fall hat eine relativ lange Vorgeschichte. Bereits 1980 wurde aufgrund einer städtischen Zustimmung ein Bungalow errichtet. Dieser wurde allerdings nicht grenzständig gebaut, sondern etwa 25 cm über die Grenze zum Nachbargrundstück. Im Jahr 2010 wurde das Grundstück mit dem Bungalow verkauft. Die neuen Eigentümer beantragten eine Baugenehmigung zur Nutzungsänderung des Bungalows in ein Wohnhaus mit einem Anbau. Dabei sollte die über die Grundstücksgrenze gebaute Wand auf die Grenze zurückgesetzt und das darin befindliche Fenster geschlossen werden. Die Baugenehmigung wurde 2012 erteilt. Hiergegen legten die Nachbarn und späteren Kläger Widerspruch ein. Ein Eilantrag der Nachbarn wurde abgelehnt. Die Grundstückseigentümer machten trotz des Widerspruchs von der Baugenehmigung Gebrauch und stellten das Bauvorhaben 2013 fertig. In dem anschließenden Klageverfahren hob das Oberverwaltungsgericht im Jahr 2016 die Baugenehmigung auf, weil ein Verstoß gegen die Vorschriften zu den Abstandsflächen vorliege. Dies gelte auch dann, wenn das Vorhaben für sich genommen abstandsflächenneutral sei.


Im Jahr 2017 beantragten die Grundstückseigentümer eine erneute Baugenehmigung mit einer Abweichung von den Regelungen zu den Abstandsflächen. Die Bauaufsichtsbehörde ließ die Abweichung zu und erteilte die beantragte Baugenehmigung. Hiergegen legten die Nachbarn erneut Widerspruch ein. Das Landesverwaltungsamt hob die Baugenehmigung wegen eines Verstoßes gegen das Abstandsflächenrecht auf. Die hiergegen von den Grundstückseigentümern erhobene Klage wurde 2020 abgewiesen, weil ein Anspruch auf die beantragte Abweichung nicht bestehe.


Bereits 2017 hatten die Nachbarn einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten bei der Bauaufsichtsbehörde gestellt. Da der Antrag abgelehnt wurde, erhoben die Nachbarn Klage auf bauaufsichtliches Einschreiten. Das Verwaltungsgericht Magdeburg gab der Klage statt und verpflichtete die Behörde, die Beseitigung des Gebäudeteils anzuordnen, der sich innerhalb der Abstandsflächen befindet. Den hiergegen gerichteten Antrag auf Zulassung der Bauaufsichtsbehörde hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 22.12.2023 abgelehnt.


Nach der Rechtsprechung des Senats führe das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 79 Satz 1 BauO LSA für den Erlass einer Beseitigungsanordnung nicht automatisch zu einem Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten. Nach dieser Vorschrift stehe es vielmehr grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Bauaufsichtsbehörde, ob sie wegen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichteter Anlagen einschreitet oder nicht. Ein Anspruch des Nachbarn auf bauordnungsbehördliches Einschreiten folge aus § 79 Satz 1 BauO LSA erst dann, wenn die bauliche Anlage nicht durch eine bestandskräftige Baugenehmigung gedeckt wird, die Anlage materiell rechtswidrig ist und den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, dieser seine Abwehrrechte nicht verwirkt hat, der Rechtsverstoß nicht auf andere Weise als durch die (teilweise) Beseitigung behoben werden kann und das Ermessen der Behörde auf Null reduziert ist. Die Bauaufsichtsbehörde habe die für und gegen ein Einschreiten sprechenden Gesichtspunkte sachgerecht abzuwägen und bei der Verletzung nachbarschützender Vorschriften neben dem besonderen öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung baurechtmäßiger Zustände auch die Interessen des in seinen Rechten verletzten Nachbarn zu berücksichtigen. Ein Rechtsanspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten bestehe grundsätzlich nur bei einem materiell erheblich ins Gewicht fallenden Verstoß bzw. einer spürbar nachhaltigen Beeinträchtigung des Nachbarn.


Bei einem Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts über Abstandsflächen sei das der Behörde gemäß § 79 Satz 1 BauO LSA eingeräumte Ermessen in aller Regel dahin auf Null reduziert, dass gegen das baurechtswidrige Vorhaben eingeschritten werden muss. Bauordnungsrechtliche Abstandsflächenvorschriften gehörten mit ihrem unmittelbaren räumlichen Bezug zu Nachbargrundstücken zum Kernbestand des öffentlichen Baunachbarrechts. Ihre nachbarschützende Wirkung bestehe nach Sinn und Zweck der Abstandsflächenvorschriften grundsätzlich unabhängig von einer tatsächlich feststellbaren Beeinträchtigung des Nachbarn. Soweit sie Nachbarschutz vermitteln, indiziere bereits ihre Verletzung die Beeinträchtigung des Nachbarn in Belangen, deren Schutz die Abstandsflächenvorschriften dienen. Einer Einzelfallprüfung bedürfe es regelmäßig nicht, wenn - wie hier - die Mindesttiefe der Abstandsfläche nach § 6 Abs. 5 BauO LSA unterschritten wird, kein Sonderfall i.S.d. § 6 Abs. 9 BauO LSA vorliegt und keine Abweichung gemäß § 66 BauO LSA zugelassen werden kann. In einem solchen Fall sei dem Nachbarn die durch den Verstoß gegen § 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 BauO LSA indizierte Beeinträchtigung seiner durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange grundsätzlich nicht zumutbar. Allenfalls in Bagatellfällen, bei denen es um Über- oder Unterschreitungen um wenige Zentimeter geht, könne aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausnahmsweise eine andere Bewertung angezeigt sein.


Diese Grundsätze gelten jedenfalls dann, wenn einem Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten ein Klageverfahren des Nachbarn vorausgegangen ist. Es sei anerkannt, dass ein Bauherr, der ein Vorhaben auf der Grundlage einer noch nicht bestandskräftigen Baugenehmigung verwirklicht, das Risiko in Kauf nimmt, bei einem Erfolg einer baurechtlichen Nachbarklage die bauliche Anlage wieder beseitigen zu müssen. Wenn der Bauherr in Kenntnis dieses Risikos das Bauvorhaben fertigstellt, gehe dies zu seinen Lasten. Nach diesen Grundsätzen habe die Behörde einschreiten müssen. Dabei sei es unerheblich, dass im Vergleich zum vorherigen Bungalow ein geringerer Verstoß vorliege.

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